Leseprobe: RAUSCHMASCHINEN

Soziologen der Goethe-Universität Frankfurt haben bei einer Erhebung mit 600 Jungen und jungen Männern im Alter zwischen 13 und 35 Jahren festgestellt, dass ein Drittel der Probanden täglich mehr als drei Stunden damit zubringt, im Internet zu spielen. Das dürfte der bei Drucklegung dieses Buches aktuelle Stand sein.

Kurz vor Weihnachten 1997, am Freitag, 19.12., wurde im Südwestfunk-3 für die Spielekonsole eines bekannten Herstellers mit dem Slogan „Suchtfaktor 10“ geworben. „Wenn man sich an Weihnachten nichts mehr zu sagen hat…“, so hieß es, würde dieses Produkt die Leere füllen. „Little Brick Out“ war out, und immer neue, ausgefeiltere Spiele wurden auf den Markt geworfen. Ballerspiele, Flugsimulatoren, soziale Simulationen wurden erfunden und in Massen zusammengebaut und verkauft.

In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kamen praktisch gleichzeitig mit den Spielekonsolen die ersten Taschencomputerspiele auf den Markt, kleine Gehäuse, die ein paar Tasten, einen Mikroprozessor und ein einfaches Display mit Uhr besaßen. Auf diese Weise wurde die Funktion eines digitalen Zeitanzeigers um einen einfachen Zeitvertreib erweitert. Um ein solches Hardwarearrangement handelt es sich bei dem „Fledermausspiel“, dem diese Detailstudie gewidmet ist.

Heute gibt es kaum noch einen digitalen Diener, der nicht auch mit mindestens einem vergleichbaren Spiel ausgestattet ist. Wenn auch die Möglichkeiten von PDAs, Handys, Navis und ähnlichen Apparaten bei weitem größer sind als die des hier beschriebenen Geräts, so lassen sich doch grundsätzliche Verhaltensweisen im Umgang mit dem Archetyp „Fledermausspiel“ besonders einleuchtend darstellen.

Das Spiel besticht durch seine Überschaubarkeit. Es lässt sich mit einer Lupenvergrößerung analysieren, die bei komplexeren Anordnungen Insiderwissen voraussetzen und letztlich zu Verwirrungen führen würde. Zweifellos lassen sich jedoch die folgenden Betrachtungen – wenn auch mit gewissen Einschränkungen – genauso auf Wechselwirkungen zwischen Menschen und Computern verallgemeinern. Auch in Bezug auf Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Internet dürfte die vorliegende Untersuchung Relevanz haben. Man denke nur an die Subkultur in Second Life oder, bei Drucklegung dieses Buches ganz aktuell: Spore. In Spore können Spieler virtuelle Kreaturen erschaffen, die per Internet in enger Koppelung zu den Kreaturen anderer Spieler „aufwachsen“, ein Eigen-„Leben“ entwickeln und dabei künstliche „Kulturen“ aufbauen, die sich anschicken, die Welt zu erobern. Sie tun es nicht virtuell, sondern wirklich.

Dabei scheint es keine große Bedeutung zu haben, ob die Zielsetzung des Benutzers die Verrichtung einer Arbeit, eine kreative Tätigkeit oder mußevolle Entspannung ist. Mit der zuletztgenannten Attitüde verwandt dürfte das unkritische Konsumieren von TV-Contents sein, und ein Seitenblick auch in diese Richtung ist erlaubt.

Unabhängig von der Komplexität der Systeme, mit denen moderne Menschen sich auf die eine oder andere Weise auseinanderzusetzen haben, steht längst fest, dass die westliche Kultur in essentieller Abhängigkeit von digitalen Informationsmaschinen steht. Abhängigkeit ist Unfreiheit. Abhängigkeiten von „Wunschmaschinen“ lassen sich am allereinfachsten Beispiel des Fledermausspiels offenlegen. Hier lässt sich auf elementare Weise zeigen, wie das All-mögliche zunehmend in die Nähe des mit den fünf Sinnen Begreifbaren und Erfahrbaren gerückt, die natürliche Bedürfnishierarchie neu aufgemischt und leider allzuoft durcheinander gebracht werden kann. Das Versprechen einer größeren Freiheit wird allerdings nicht eingehalten und sogar ad absurdum geführt.

Die grundlegende Fragestellung der vorliegenden Untersuchung soll sein: Wie lässt sich die Wechselwirkung zwischen Spieler und Spiel beschreiben? Was geschieht in den Tiefen der Spielerpsyche? – Aufgedeckt wird ein Prozess der Verführung zum geistigen Rausch, der nicht nur Gestaltähnlichkeit zu sexuellen Rauschzuständen aufweist und damit genuin im Männlichen und im Weiblichen an sich verankert ist, sondern der auch alle Merkmale des Drogenmissbrauchs aufweist, wie er aus klinischen Zusammenhängen bekannt ist.

Es geht um das unabweisbare Verlangen nach bestimmten Verhaltensformen, durch die ein kurzfristig befriedigender Erlebniszustand erreicht wird. Diesem Verlangen werden nach Verständnis der Weltgesundheitsorganisation die Kräfte des Verstandes untergeordnet. Das zwanghafte Streben nach endlicher Einlösung der Versprechen, die die Wunschware zu geben scheint, behindert die freie Entfaltung einer Persönlichkeit und kann die sozialen Bindungen und die sozialen Chancen eines Individuums beeinträchtigen oder zerstören. Die WHO definiert Abhängigkeit als „einen seelischen oder körperlichen Zustand, der dadurch charakterisiert ist, dass ein dringendes Verlangen oder unbezwingbares Bedürfnis besteht, sich die entsprechende Substanz fortgesetzt und periodisch zuzuführen.“ Im vorliegenden Fall handelt es sich offenbar um eine „geistige Substanz“, zumindest aber um nichtstoffliche Qualitäten rauscherzeugender Objekte.

Die hier vorliegende Untersuchung enttarnt ein interaktives Spiel als Rauschmaschine.

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